Abolirea familiei / Die Abschaffung der Familie
Nicoleta Esinencu / HAU | Performance
Die Autorin und Regisseurin Nicoleta Esinencu verknüpft persönliche Erfahrungen des Verlusts der eigenen Eltern mit konkreten Entwicklungen der Familienpolitik im moldawischen Staat und mit der spezifischen Situation von Familien nach dem Zerfall der Sowjetunion. Sie fragt nach dem Begriff der „Familie“ im 21. Jahrhundert und was es heißt, in der heutigen Kultur über Familie zu sprechen. „Ein Chor von Erzähler*innen wirft dabei einen vernichtenden Blick auf Monogamie, Privateigentum, Patriarchat und Kapitalismus.
Das Thema Familie hat in der Republik Moldau besondere Bedeutung erlangt, denn nach dem Fall der Sowjetunion, als der neu geschaffene moldawische Staat das Wohl seiner Bürger nicht absichern konnte, verlagerte sich der ganze Druck des wirtschaftlichen Überlebens auf die Familie selbst.
Es war jeder einzelnen Familie überlassen, eine Lösung zu finden, um mit den veränderten Bedingungen fertig zu werden. Das Land zu verlassen, um im Ausland zu arbeiten, wurde zum Ausweg für den größten Teil der Bevölkerung. Dies führt seitdem zur Trennung und zum Auseinanderfallen vieler Familien und zur Entfremdung vieler Eltern von ihren Kindern, Männern von ihren Frauen, zu Brüchen zwischen Brüdern und Schwestern. Ein sehr konkretes, aber auch allgemeines Phänomen der Auflösung der Familie, dem der Staat einerseits bis heute in keiner Weise mit wirksamen Mitteln entgegenarbeitet, um auf der anderen Seite die Rhetorik fortzusetzen, dass die Familie als einer der höchsten traditionellen, christlichen und moldawischen Werte nicht infrage gestellt oder diskutiert werden darf.
Ausgehend von diesen konkreten Zusammenhängen und verknüpft mit der persönlichen Erfahrung des Verlusts der eigenen Eltern, fragt Nicoleta Esinencu nach dem Begriff der “Familie” im 21. Jahrhundert? Was heißt es, in der heutigen Kultur über Familie zu sprechen? Eine Kultur, in der über die eigene Verletzlichkeit zu sprechen inakzeptabel ist, wobei die Familie eines unserer empfindlichsten Felder ist. Eine Kultur, in welcher es nicht erwünscht ist, Familienbeziehungen zu relativieren oder in Frage zu stellen.
Die Familie, die traditionelle Familie, die patriarchalische Familie, die monogame Familie – all das weckt geradezu idyllische Vorstellungen von Sorge, Liebe und Unterstützung. Nie geht es um Lieblosigkeit, Gewalt, emotionalen Terror oder Machtbeziehungen.
Auf der Bühne werden unterschiedliche Familien-Geschichten entwickelt. Die Geschichtenerzähler*innen bilden gleichwohl einen Chor – als eine kollektive Stimme, die die Mechanismen des staatlich geförderten Patriarchats verdeutlicht. Die mit dem Mythos der monogamen Familie aufräumt, der die traditionelle Familie in Bann hält; die einen bösen Blick wirft auf das Privateigentum; die das patriarchalische System verflucht und am Ende den Kapitalismus selbst.
Moldawisches Rumänisch, Russisch, Romani mit deutschen und englischen Übertiteln.
Dauer: 120 Minuten
Produktion: HAU Hebbel am Ufer.
Koproduktion: FFT Düsseldorf, teatru-spălătorie.
Gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Goethe-Institut. Mit freundlicher Unterstützung des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) und des Freundeskreises des HAU Hebbel am Ufer. Nicoleta Esinencu ist ein Gast des Berliner Künstlerprogramm des DAAD.